Die unangenehme Wahrheit über Privilegien

PRIVILEGIEN - Die Führungskraft mit dem höheren Gehalt, die Chefin mit dem Dienstwagen und der Kollege, der als einziger im Homeoffice arbeiten darf: Sind sie privilegiert? Oder sind das verdiente Vorteile? Der Versuch, einem emotional aufgeladenen Thema auf den Grund zu gehen.

Bozen – Manche haben mehr, manche haben weniger. Die, die weniger haben, schimpfen gerne über die, die mehr haben. Und die, die mehr haben, nehmen genau das Geschimpfe als ungerechtfertigt wahr. So läuft die ewige Privilegien-Debatte. Als privilegiert gelten Menschen mit weißer Hautfarbe, Männer, Personen mit einem hohen Bildungsstatus und Individuen, die in einem wohlhabenden, stabilen familiären Hintergrund aufwachsen.

Als privilegiert werden von der Gesellschaft ebenso bestimmte Personen- bzw. Berufsgruppen wahrgenommen: Sei es die Politikerin, die ein ansehnliches Einkommen erzielt, der Bauer, der steuerliche Vorteile hat, oder der öffentlich Bedienstete, der sich bei voller Arbeitsplatzgarantie für zwölf Monate in ein Sabbatjahr verabschieden kann. Auch in unserem Arbeitsalltag begegnen wir Menschen, die ein paar Zuckerlen mehr bekommen als andere.

Weiße sind privilegiert, Männer ebenfalls. Aber ist auch die Führungskraft, die ein höheres Gehalt hat, privilegiert? Oder ist das verdient?

Der Chef etwa, der einen Privatparkplatz direkt vor dem Firmeneingang hat, während seine Angestellten fünf Minuten laufen müssen. Oder die Praktikantin, die in einer Stelle nur gelandet ist, weil ihre Nachcousine die Führungskraft einer Abteilung ist. Oder der Arbeitskollege, der öfter oder als einziger von Daheim aus arbeiten darf.

Sie alle werden auf die ein oder andere Weise bevorzugt, sie genießen Privilegien. Und genau dieses Privilegien-Haben sorgt in der Gesellschaft immer wieder für Diskussionen. Gleichzeitig dient der Privilegien-Vorwurf gerne als Totschlagargument: gegen Besserverdienende, gegen Politiker:innen, gegen Männer, gegen Unternehmer:innen, gegen Beamt:innen, die in den Augen der Neidischen „leicht reden“ haben, sie sind ja schließlich privilegiert. Aber was sind Privilegien eigentlich?

Recht der Wenigen

Privilegien sind eine schwammige Angelegenheit. Das wird beim Versuch, diesem Begriff auf den Grund zu gehen, schnell klar. Allein, dass wir dieses Wort in so vielen verschiedenen Kontexten verwenden, zeigt, wie verschwommen seine Grenzen sind.

Ursprünglich kommt „Privileg“ vom lateinischen privilegium, das aus privus (einzeln, gesondert) und lex (Gesetz) ­zusammengesetzt ist. „Traditionell waren Privilegien explizite Vorrechte oder Sonderrechte“, erklärt Jörg Scheller, der sich in seinem Buch „(Un)check your privilege“ ausgiebig mit dem Begriff beschäftigt (siehe Interview). Anders als im römischen Recht versteht die Gesellschaft unter Privilegien heute weniger Einzelverfügungen, sondern eher Vorrechte aufgrund von Gruppenzugehörigkeiten.

Privilegien sind Vorteile, die man hat, die aber nicht unbedingt verdient sind. Sie können materieller Natur sein, wie ein Privatparkplatz, oder immaterieller Natur, wie die Möglichkeit, zu studieren.

Was heißt das konkret? Ein Privileg von weißen Personen ist es, keinen Rassismus zu erfahren, eine wohlhabende Person hat das Privileg, sich über Armut keine Gedanken machen zu müssen, und jemand mit wohlhabenden Eltern muss sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, wie das eigene Studium finanziert werden soll. All diese Menschen sind privilegiert. Aber ist auch die Führungskraft, die ein höheres Gehalt hat, privilegiert? Oder ist das verdient? Und wie schaut es mit der Arbeitskraft aus, deren Entlohnung zwar niedriger ist, die nach 17 Uhr aber nicht mehr an die Arbeit denkt? Bei solchen Beispielen wird es schon schwerer, zu definieren, wo gerechtfertigte Ansprüche aufhören und Privilegien anfangen.

Privilegien sind hochemotional

Etwas haben Privilegien gemeinsam, egal ob sie echt oder nur gefühlt sind: Sie lösen Unmut bei denen aus, die sie sich ebenfalls wünschen. Warum? „Dieses Gefühl von Benachteiligt-Sein ist sehr stark von unseren Bedürfnissen geleitet“, erklärt die Psychologin und Psychotherapeutin Sabine Cagol. „Die Wahrnehmung ist teils ein von der Natur der Reize und der Beschaffenheit der Sinnesorgane bestimmtes Geschehen, das aber auch durch die Erfahrung, die gegenwärtigen Wünsche und die Aufmerksamkeit des Individuums bestimmt wird.“ Ein hungriger Mensch nimmt deshalb bevorzugt Gegenstände wahr, die mit der Befriedigung seines Hungers zu tun haben; ärmere Kinder schätzen Münzen größer ein als reichere.

„In dem Moment, in dem ich zum Beispiel das Bedürfnis nach Anerkennung, Aufmerksamkeit oder die Sorge, zu kurz zu kommen habe, kann es sein, dass ich Privilegien anderer deutlich größer und relevanter wahrnehme“, sagt Cagol.

Die Wahrnehmung von Menschen ist also Verzerrungen unterworfen: Vorteile, die wir uns selbst wünschen, werden plötzlich relevanter, wenn wir uns davon versprechen, dass es uns dadurch besser geht. Wird der Wunsch nach etwas nicht erfüllt, kommt Unmut auf. Privilegien, die ungleich verteilt sind, können der Auslöser für schlechte Stimmung sein. Sowohl in der Gesellschaft als auch in der Arbeitswelt.

„Für eine Organisation toxisch“

„Hat ein bestimmter Kreis in einem Unternehmen Privilegien, dann wird dadurch ein Zwei-Klassen-Denken gefördert. Für eine Organisation ist das toxisch“, weiß Dorotea Mader, Mitgründerin der People-and-Culture-Agentur Human&Human. Gleichzeitig sei es nicht mehr zeitgemäß, jeder Mitarbeiterin und jedem Mitarbeiter dieselben Vorgaben, etwa bezüglich Arbeitszeit oder Homeoffice, zu machen. Viele wünschen sich, dass ihnen der Arbeitgeber bis zu einem gewissen Punkt entgegenkommt. Wie also sollten Unternehmen umgehen mit individuellen Homeoffice-Wünschen, Dienstwagen, die nur Einzelne bekommen und Privatparkplätzen?

„Ausnahmen, die erklärbar sind, müssen unbedingt erklärt werden. Wenn Ausnahmen nicht erklärt werden können, haben sie keine Daseinsberechtigung.“

Zunächst einmal gilt es zu hinterfragen, ob es sich bei den Ausnahmeregelungen tatsächlich um Privilegien handelt. „Ein Firmenwagen zum Beispiel ist weniger ein Privileg, sondern gehört ab einer bestimmten Gehaltsklasse zum Gehaltspaket dazu“, sagt Mader. Außerdem werde dafür ein Teil des Gehalts abgezogen. Doch es ist bekannt: Wer als fringe benefit den Dienstwagen auch privat nutzen darf, spart am Ende des Jahres eine Menge Geld.

Ein Privileg also, weil es nur Menschen in bestimmten Positionen vorbehalten ist? Nein, findet Mader. Das gehöre zur Grundausstattung. Auch Evelyn Kirchmaier, Generaldirektorin von Markas, stimmt ihr zu. „Menschen, die einen Dienstwagen bekommen, benötigen ihn bei uns im Unternehmen in der Regel für ihre Arbeit: denken wir beispielsweise an Mitarbeiter im Verkauf, die beruflich jedes Jahr zehntausende Kilometer zurücklegen, um den persönlichen Austausch mit Kunden zu pflegen.“

Transparenz ist Trumpf

Die gerechte Verteilung von Zusatzleistungen ist bei Markas laut Kirchmaier ein großes Thema. Das Unternehmen zählt mehr als 10.000 Mitarbeitende, sie reichen von Reinigungskräften bis hin zu Top-Manager:innen. Wie argumentiert man also vor ersterer, dass sie andere Rechte als letztere hat? „Bei uns sind Rollen und dazu gehörende Aufgaben und Benefits sehr klar durch Policies geregelt. Dadurch weiß jeder und jede von Anfang an, welche Spielregeln gelten, worauf man in einer bestimmten Gehaltsebene Anrecht hat und worauf nicht“, so Kirchmaier.

Genau diese Transparenz im Umgang mit Benefits ist Trumpf, sagt Ruth Gschleier, Wirtschaftsmediatorin und Coachin. „Nicht nur die Information über die konkreten Regelungen, sondern auch die Verankerung in der Unternehmens- und Führungskultur über die Mission, Vision und Werte sind notwendig.“ Dies gelinge am ehesten über Partizipation: „Je mehr die Belegschaft nicht nur informiert, sondern in die Entscheidungen eingebunden wird, desto höher ist in der Regel die Akzeptanz der Ergebnisse. Mit dem Ziel, dass diese Anreize nicht als willkürlich vergebene Privilegien empfunden werden, sondern als echte Anreize für den gemeinsamen Erfolg des Unternehmens“, zeigt sich Gschleier überzeugt.

Eine bekommt den Jet, der andere nichts?

Aus der Praxis weiß Evelyn Kirchmaier, dass die Vorteile, die einer bestimmten Gruppe von Mitarbeitenden gewährt werden, in einem bestimmten Rahmen bleiben müssen. „Natürlich hat eine Führungskraft oder ein Geschäftsführer mehr Verantwortung zu tragen, ist sowohl finanziell als auch rechtlich einem höheren Risiko ausgesetzt und muss zeitlich flexibler sein – trotzdem braucht es bei der Entlohnung eine gewisse Verhältnismäßigkeit.“ Solange die Vorteile klar geregelt und nachvollziehbar seien, würden sie auch von der Belegschaft akzeptiert.

Dieser müssen die Vorteile unbedingt erläutert werden, unterstreicht Dorotea Mader. „Ausnahmen, die erklärbar sind, müssen unbedingt erklärt werden.“ Denn wenn man etwas erkläre, könne man damit die Meinungs- und Stimmungsbildung beeinflussen, und damit Missgunst und Neid verhindern.

Ausnahmen müssen erklärbar sein

Und wie schaut es mit nicht – oder nur schwer – erklärbaren Ausnahmen wie individuellen Homeoffice-Regelungen und Privatparkplätzen aus? Bei Homeoffice etwa sollte man Regeln einführen, die für alle gelten, und nicht nur für die Eltern, die sich daheim um den Nachwuchs kümmern müssen, oder den jungen Mitarbeiter, der sich gerade einen Welpen zugelegt hat. Wichtig sei, dass die Regeln nicht an eine Person angepasst werden. Beim Privatparkplatz des Chefs kennt Mader hingegen kein Pardon. „Wenn Ausnahmen nicht erklärt werden können, haben sie keine Daseinsberechtigung.“ Denn dann handle es sich tatsächlich um Privilegien, und die sorgen für negative Stimmung.

Und wie schaut es mit dem deutlich höheren Gehalt der Führungskraft aus? Oder der Möglichkeit, daheim die Arbeit zu vergessen? Sind das auch Privilegien? Oder verdiente Vorteile? Es gäbe noch zahlreiche andere Beispiele, bei denen es schwerfällt, eine klare Antwort zu finden. Trotzdem: Bevor wir das nächste Mal über die Privilegien anderer schimpfen und in negative Denkmuster verfallen, könnte es helfen, sich vor Augen zu führen, dass wir alle auf die ein oder andere Weise privilegiert sind. Das zeigt schon die Tatsache, dass wir diese Zeilen lesen können.